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4. Dezember

Ich wachte auf. Es war noch dunkel draußen. Klar, wir hatten ja auch den vierten Dezember. Doch die Uhr zeigte gerade mal halb vier an. Ich klopfte mein Kissen aus und legte mich wieder hin. Aber einschlafen war nicht drinnen. Wie sehr ich mich auch wälzte, oder die Augen zukniff, ich konnte einfach nicht schlafen. Lag es daran, dass das Bett zu unbequem und hart war? In meinem alten Zuhause hatte es nur superweiche Betten gegeben. Und hier fühlte es sich an, als ob ich auf einem Holzbrett läge. Wie hatte es Dove Bitteschön all die Jahre überlebt?

 

Aber nein, an dem unbequemen Bett lag es nicht. Ich versuchte, all meine Gedanken und Gefühle irgendwie in meinem Kopf zu ordnen, in ein Regal zu packen. Gestern war so viel passiert. Ich bräuchte wohl etwas Zeit, um das alles zu verarbeiten, doch ich ließ mir nichts anmerken. Alle hier hatten bestimmt schon genug Sorgen, da mussten sie nicht extra auf mich achten. Vor allem Dove. Sie war mir gestern ziemlich komisch vorgekommen, hatte sich eher im Hintergrund aufgehalten. Deshalb wollte ich auch zu ihr in ein Zimmer. Um zu wissen, was mit ihr los war. Sie war ziemlich nett und höflich und genauso ein Bücherwurm wie ich. Sogar die gleichen Lieblingsbücher hatten wir. Die anderen Mädchen waren ganz in Ordnung, auch wenn sie mich, als Neue, immer anglotzten, wenn ich durch die Gänge des Mädchenwaisenhauses lief. Und die Erzieherinnen waren ebenfalls nett zu mir. Zu nett, meiner Meinung nach. Sie behandelten mich wie ein rohes Ei, welches jeden Moment zerbrechen konnte. Außerdem vermisste ich meine Eltern. Ihre Todesursache war immer noch gänzlich unbekannt. Dove hatte mich, zum Glück, noch nicht darauf angesprochen. Auch sie wirkte manchmal sehr traurig, sie hatte mir nur gesagt, dass ihre Eltern starben, als sie vier Jahre alt war. Manchmal tat sie mir echt Leid. Dove hatte, wie es aussah, nicht mal Freunde hier. Das musste sich unbedingt ändern!

 

,,Hey Charm, du bist ja schon wach.“, gähnte Dove und streckte sich in ihrem Bett, bevor sie aufstand, sich kurz die schulterlangen, braunen Haare durchkämmte und sich schließlich anzog. Sie trug eine schwarze Jeans und dazu eine graue Jacke.

 

,,Ja.“, murmelte ich. ,,Konnte nicht mehr schlafen.“ Ich bemerkte, dass ich Hunger hatte, denn mein Magen knurrte fürchterlich. Mit einem verlegenen Lächeln schaute ich auf Dove, welche das sicherlich gehört hatte.

 

,,Na komm, wir gehen zum Frühstück.“, meinte sie und hielt mir die morsche Holztür entgegen, welche barbarisch geknarzt hatte, so dass ich mir die Hände auf die Ohren pressen musste. Ich stutzte erst, doch dann folgte ich ihr. Gewöhnen konnte ich mich irgendwie immer noch nicht daran, dass mir morgens niemand das Frühstück ans Bett brachte.

 

,,Deine Tür muss echt mal wieder geölt werden.“, sagte ich, als wir unten eintrafen. Der Aufenthaltsraum, in welchem es auch Essen gab, war mit Mädchen gefüllt, welche alle lachten und schmatzten, oder Hausaufgaben machten. Der Geruch nach frisch gebackenen Brötchen und Marmelade stieg mir in die Nase.

 

,,Was heißt hier deine? Das ist UNSERE Tür. Schon vergessen, du wohnst jetzt bei mir.“, rief Dove empört, setzte sich und nahm sich ein Brötchen. Noch etwas schüchtern tat ich es ihr gleich. ,,Ach so, ja…“

 

,,Weißt du was? Wir spielen ein Spiel, um uns besser kennenzulernen. Also pass auf. Wir suchen uns ein Thema heraus, zum Beispiel Tiere, und jeder muss zwei Dinge sagen, welche er mit diesem Thema verbindet, oder was er daran so toll findet, oder so was in der Art. Jede runde wird aber das Thema gewechselt. Was hälst du davon?“, fragte Dove mit vollem Mund, da sie nebenbei ihr Brötchen verschlang.

 

Während ich mir eher schlecht als recht ein Brot schmierte (niemand hatte mir zuhause beigebracht wie), antwortete ich ihr, dass das eine gute und lustige Idee sei. Sie meinte, dass sie beginnen würde.

 

,,Meine Lieblingstiere sind Wölfe. Ihr heulen ist so beruhigend, ich verstehe gar nicht, warum man sie jagt. So, jetzt bist du dran. Du hast das Prinzip verstanden oder?“

 

Ich nickte und nach kurzem überlegen antwortete ich:,, Ich wurde einmal von einem Hund gebissen. Seitdem hab ich Angst vor Hunden, selbst vor kleinen.“ Die Antwort überraschte Dove. ,,Diese Angst müssen wir unbedingt überwinden.“

 

Wir schwiegen für eine Minute, dann meinte sie:,, Ich mag keine Schnecken. Die sind so schleimig und so langsam, am liebsten würde ich sie einfach nehmen und sie dorthin werfen, wo sie hinkommen wollen, damit sie wenigsten einmal Fahrtwind genießen können.“ Das überraschte mich wiederum.

 

,,Meine Lieblingstiere sind Rentiere und Eulen, aber auch Eichhörnchen mag ich sehr. Und deswegen mag ich auch Weihnachten total gerne, aber nicht nur wegen den Rentieren.“ Auf einmal verstummte alles um mich herum. Alle waren wie eingefroren. Dove wurde ganz blass und die anderen Mädchen schauten mich nur völlig perplex an. Was hatte ich getan? Konnte mich mal bitte jemand aufklären? Hatte ich etwas falsches gesagt? Was konnte nur so schlimm sein, dass niemand mehr etwas sagte? Ich hatte doch nur über Rentiere geredet. Und halt über Weihnachten. Aber was war bitte an Weihnachten so schlimm? Es war, meiner Meinung nach, der beste Tag des Jahres. Ich saß immer mit meinen Eltern im Salon und freute mich über meine Geschenke und über die glücklichen Gesichter meiner Eltern, nachdem sie meiner Geschenke für sie ausgepackt hatten. Und auch die Vorweihnachtszeit liebte ich, da alle in der Vorfreude schwebten. Doch dieses Jahr war alles irgendwie anders. Ich hatte mich gar nicht wirklich darüber gefreut, als ich in den letzten Tagen mein Adventskalendertürchen öffnete. Dove hatte mir auch weniger begeistert zugeschaut. Generell hatte niemand hier einen Weihnachtskalender, nicht einmal Dekoration für Weihnachten war da, auch kein Adventskranz, obwohl in vier Tagen schon der zweite Advent war.

 

,,Was war das vorhin, beim Frühstück?“, fragte ich Dove, nachdem wir aus unserem Unterricht zurückkehrten. Sie schaute sich kurz um, dann winkte sie mich in eine hintere Ecke des Korridors. ,,Du musst wissen“, flüsterte sie. ,,Dass niemand hier Weihnachten besonders mag. Ich glaube, das ist dir schon aufgefallen. Keine Deko und so.“

 

,,Aber warum?!“, rief ich aufgebracht. Beim besten Willen konnte ich mir nicht vorstellen, wie man dieses Fest einfach nicht mögen konnte. ,,Psst! Nicht so laut!“, flüsterte Dove und hielt mir ihre Hand vor den Mund. ,,Sorry“, murmelte ich. ,,Aber warum denn jetzt nicht?“ ,,Das ist so. Hier im Waisenhaus gibt es kein Weihnachten. Das ist so eine komische alte Tradition, da die Eltern der Gründerin an Weihnachten verstarben. Und tatsächlich, die meisten Eltern der Waisen hier verstarben auch in der Vorweihnachtszeit. Und jetzt mag niemand Weihnachten, es ist wie ein böses Schimpfwort. Ich selbst muss zugeben, dass ich Weihnachten verabscheue. Deshalb versuche ich auch, in dieser Zeit so wenig wie möglich in die Stadt zu gehen, da dort alles voll von diesem Dreck.“ So war das also! Ziemlich bitter. Und noch schrecklicher. Aber das bedeutete, dass es hier überhaupt kein Weihnachten gab. Das konnte doch nicht sein!

 

,,Was?! Das ist ja schrecklich! Heißt das also, dass du Weihnachten nicht kennst?“ Entsetzt blickte ich in Dove’s waldgrüne Augen. Sie wirkten sehr traurig. ,,In meinem Leben hatte ich dreimal das Vergnügen, Weihnachten zu feiern. Beinahe sogar vier mal. Doch am Abend, kurz vor der Bescherung kamen meine Eltern um.“

 

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