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6. Dezember

Auch diese Nacht konnte ich nicht mehr weiter schlafen. Doch anders als gestern, erwartete mich eine schöne Überraschung, während ich durchs Fenster blickte, welches einen guten Blick auf die Straße bot. Der Schnee, welcher fiel, bedeckte die ganze Straße mindestens einen Meter hoch, wie ein weißer Teppich. Ein breites Lächeln zierte mein Gesicht. Am liebsten würde ich sofort rausgehen, und in der weißen Pracht spielen. Mit Dove. Inzwischen verstanden wir uns immer besser und erzählten uns vieles.

 

Dann bemerkte ich, welcher Tag heute war, als ich mir meine Brille mit den runden Gläsern aufsetzte und nebenbei das Türchen meines Adventskalenders öffnete. Dove beklagte sich oft über ihn und meinte einmal, dass ich froh sein solle, da er noch nicht konfisziert wurde. Aber jedenfalls war heute Nikolaustag. Gestern putzte ich tatsächlich meine Schuhe, obwohl ich mir zu hundert Prozent sicher war, dass sich nichts in meinen braunen Winterschuhen befinden würde. Um sicher zu gehen, öffnete ich trotzdem unsere Zimmertür um nachzusehen. Nichts. Meine Schuhe standen geputzt und ohne Inhalt wie gestern Abend da. Dafür wachte Dove aber durch das Gequietsche der Tür auf.

 

,,Boah, Charm, was ist los?“, murmelte sie fast noch im Halbschlaf. ,,Wo willst du hin?“

 

,,Ich? Nirgendwo.“

 

,,Aber sonst hättest du die Tür nicht geöffnet, willst du abhauen?“, lachte Dove und ging zu mir. Sie sah ziemlich fertig und müde aus, aber ihre Augen strahlten trotzdem. Hoffentlich hatte sie sich gut erholt. ,,Was? Nein, ich wollte nur…ach, egal.“, meinte ich und schloss die Tür unauffällig. Leider sah meine beste und einzige Freundin was sich dahinter verbarg.

 

,,Du hast deine Schuhe vor die Tür gestellt? Warum?“, fragte sie mich. Zum Glück war es dunkel, so dass sie nicht sehen konnte, wie rot ich wurde. ,,Ist doch auch egal, schau mal, es schneit!“, versuchte ich, vom Thema abzulenken. Das klappte. Aber nur kurz. Nachdem Dove dem Fenster einen flüchtigen Blick zugeworfen hatte, harkte sie auch schon weiter nach. ,,Also, warum jetzt?“

 

Ich holte tief Luft. ,,Na gut. Heute ist Nikolaustag.“ Als sie mich anschaute, als ob sie ein Fragezeichen im Gesicht hätte, erklärte ich ihr diesen Tag kurz. Sie schien zu verstehen. ,,Ich erinnere mich dunkel. Aber es hat doch keinen Sinn, deine Schuhe waren leer, oder?“, entgegnete sie tadelnd. Ich nickte stumm.

 

Wenigstens hatten die Kinder des Waisenhauses nichts gegen Schnee, so machten die meisten von uns (Dove und ich eingeschlossen) am Nachmittag eine Schneeballschlacht auf der Straße. Dove war echt eine gute Schützin und super im ausweichen, was ich von mir nicht behaupten konnte. Schon nach fünf Minuten waren meine Kleider völlig durchnässt und so musste ich reingehen, um mich umzuziehen (zum Glück gab es ein paar Wechselsachen für mich).

 

Als ich gerade wieder nach draußen gehen wollte, um die weiße Pracht zu genießen, wurde ich von Alice, einem netten Mädchen, mit welchem ich mich auch ziemlich gut verstand, aufgehalten. In ihren nussbraunen Augen stand pures Mitgefühl. Stumm reichte sie mir einen Zeitungsausschnitt. Ich las.

 

Todesursache endlich bekannt

 

Die beiden Ärzte Iris Damian und Harry Damian verstarben am 30. November. Bis vor kurzem war Ihre Todesursache nicht bekannt, doch Untersuchungen der Leichen haben endlich ein Ergebnis hervorgebracht. Sie litten an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung und verstarben schließlich in ihrem Hotelzimmer, da Sie sich auf einer geschäftlichen Reise befanden, an einem Schlaganfall. Ihre jüngste und einzigste Tochter Charm Damian verbringt - lesen sie weiter ab Seite 3

 

Doch weiter ab Seite 3 lesen wollte ich nicht. Ich dachte, dass ich die Phase der Trauer einigermaßen überstanden hatte, doch jetzt kam alles doppelt und dreifach zurück. Dicke Tränen wollten meine Augen verlassen und tropften schließlich auf den Holzboden. Ich vermisste sie nun so sehr. Die ganze Zeit über hatte ich die Tatsache des Todes irgendwie aus meinem Bewusstsein gedrängt, doch jetzt traf es mich wie ein Pfeil und die Brust. Ich wollte einfach nur allein sein.

 

Es klopfte. ,,Was ist?“, schluchzte ich. Ich hörte wieder dieses unerträgliche Quietschen und Dove kam mit einer Kanne Öl ins Zimmer. ,,Ich dachte mir, dass man die mal dringend ölen müsste.“, meinte sie und begann mit ihrer Arbeit. Ich schniefte, legte mein Taschentuch beiseite und schaute ihr still zu.

 

Als sie fertig war, setzte sie sich zu mir und nahm mich in den Arm. ,,Hey, ich weiß wie das ist. Wir wissen das alle. Du kannst ruhig mit mir darüber reden. Ich bin für dich da. Wir sind doch jetzt Freunde.“, flüsterte sie und nebeneinander schauten dem wilden Schneetreiben draußen zu. Ich setzte ein zuversichtliches Lächeln auf. Normalerweise war ich lustig und wild. Die alte Charm sollte wieder zurück kommen. Momentan war ich die deprimierte Charm. Das musste sich ändern. Also schlug ich kurzerhand das gleiche Spiel vor, welches wir vor zwei Tagen gespielt hatten. Zwar musste ich zwischendurch immer mal wieder anfangen zu weinen, doch mit Dove zu spielen munterte mich auf. So saßen wir dann noch den ganzen Nachmittag in meinem Bett.

 

Klar, ich hatte zwar nun keine Familie mehr. Aber dafür hatte ich Dove, die allerbeste Freundin, die man sich nur wünschen konnte.

 

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