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24. Dezember

Wir zogen unsere besten Kleider an, um uns dann am Bett von Dove zu versammeln. Es war

dunkel, und draussen wütete noch immer der Schneesturm, unbarmherzig und schonungslos,

um alles zu zerstören, was nicht kräftig genug war, standzuhalten. Doves Zimmer war nur

spärlich beleuchtet, dem Augenblick sichtlich angemessen. Die Medizin war noch immer nicht

eingetroffen, und ihr Zustand dementsprechend schlechter. Die Hausmutter bat uns, ans Bett zu

kommen und zu beten. Dove lächelte, als sie alle Mädchen sah. Tränen flossen leise an

Gesichtern herab. Ich biss mir auf die Lippen und wollte Stärke zeigen, konnte meine innere

Aufgewühltheit aber nur schwer verbergen. Was nützten all die Gebete, wenn Gott sie sowieso

nicht erhörte? Ich sah keinen Sinn darin, meine beste Freundin sterben zu lassen. Die Hoffnung

auf Rettung schmälerte sich von Stunde zu Stunde. Wie bedrückend die Stille doch war. Wie

unerträglich die Verzweiflung, wie schwer diese Last.

Plötzlich hörten wir ein Hämmern, was uns aus unserer Bedrücktheit jäh herausriss. Es war

dumpf und wirkte dennoch energisch. Die Hausmutter schickte eines der Mädchen nach unten,

um nachzusehen. Wir hörten einen Schrei und hörten Stimmen. Ein Einbrecher vielleicht? Ich

rannte los und sah, wie ein Bote nach oben gerannt kam und ein Bündel in der Hand hielt.

Konnte das möglich sein? War das etwa…? Er brachte tatsächlich die langersehnte Medizin,

Doves Rettung! Helle Aufregung herrschte sogleich im Zimmer. Es wurden mehr Kerzen

angezündet, um die kostbare Fracht näher zu begutachten. Ein braunes Fläschchen und ein

Brief vom Doktor mit der Anweisung, wie die Rezeptur einzunehmen war. Dove lächelte immer

noch. Sie hatte nie den Glauben verloren, nie die Hoffnung auf Genesung. Plötzlich überkam

mich eine Welle der Freude und Scham zugleich. Wie konnte ich nur den Glauben verlieren?

Wie hatte ich nur zweifeln können? Wie schwach ich doch war.

Es wurde Morgen, und der Tag erstrahlte nun in seinem schönsten Blau. Der Schneesturm war

vorüber und hinterließ eine weiße Wunderlandschaft, so hell, so freundlich und friedlich. Nichts

erinnerte mehr an die Dunkelheit und Bedrohlichkeit der letzten Tage und Nächte. Ich rannte

sofort in Doves Zimmer. Ich zog die Vorhänge langsam auf und bemerkte, dass sie bereits

aufrecht im Bett saß. Sie sah schon deutlich besser aus, die Medizin begann zu wirken.

„Was gibt es Schöneres, als ein strahlender Morgen?“, sagte sie voller Zuversicht. „Na die

Geschenke, die auf uns warten“, flötete ich. „Fröhliche Weihnachten, liebe Dove. Ich wünsche

Dir von Herzen das Beste dieser Welt“. Ich gab ihr einen dicken Kuss auf die Wange. „Nun geh

schon, packe deine Geschenke aus. Worauf wartest du noch? Die Hausmutter hat schon zwei

Mal geläutet.“ Dove war immer die Fürsorglichere von uns beiden gewesen.

Ich rannte rasch nach unten, denn im Festsaal war Bescherung. Wie schön der Raum

geschmückt war. Kerzen leuchteten, und ein kleiner Baum voller Sterne und Kugeln ließ keinen

Zweifel mehr aufkommen, dass es tatsächlich Weihnachten war. Es duftete nach Bratäpfeln und

Pfeffernüssen, der Tisch war reichlich gedeckt. Plötzlich ging die Tür auf, und Dove wurde in

einem Rollstuhl hinein geschoben. Nie hätte ich es mir auch nur träumen lassen, sie noch

einmal hier zu sehen. Wie wunderbar es doch war. Es war das schönste Geschenk überhaupt.

Jedes der Mädchen war nun eifrig damit beschäftigt, ein Geschenk auszupacken. Alle staunten

über die kunstvoll verpackten Objekte, leider nicht mein Verdienst.

Plötzlich hörte man ein leises Jaulen und ein kleines Wollknäuel schoss aus einer Ecke hervor

und sorgte im Handumdrehen für helle Aufregung im Saal. Da war er, ein kleiner Welpe. So

viele erstaunte Gesichter, die sich wunderten, woher er kam. „Das ist unser Geschenk für Dove,

frohe Weihnachten meine Liebe“, sagte die Hausmutter feierlich. Dove konnte vor lauter

Staunen den Mund nicht schließen, so viel Aufregung an diesem Morgen. Oh, wie sehr hatte sie

sich einen kleinen Hund gewünscht, und nun würde ein treuer Freund ihr Leben bereichern.

Das ist Weihnachten, fast schon magisch. Kein anderes Fest ist für solche Momente geeignet.

Ich platzte förmlich vor Freude, vor Liebe und Glückseligkeit. Ich fühlte mich gut, endlich, nach

den letzten, traurigen Tagen, die in mir eine tiefe Leere hinterließen. Alles vergangen. Ich setzte

mich in eine Ecke und schaute zufrieden auf die Mädchen, die aufgeregt tuschelten und dann

begannen, die schönsten Weihnachtslieder zu singen. Ich sah die immer noch schwache, aber

überglückliche Dove in ihrem Rollstuhl, mit einem schlafenden Welpen auf ihrem Schoss. Ich

sah unsere Hausmutter, auf deren Gesicht Kummer und Gram wie weggewischt waren. Was für

ein Tag. Was für eine Zeit. Ich würde mich ein Leben lang an diesen Moment erinnern.

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